Lautet das auf Hans Bibelriether zurückgehende Motto des Nationalparks Bayerischer Wald. Damit wurde eine Wende im Naturschutz eingeleitet, weg vom reinen Arten- und Biotopschutz hin zu einem Prozessschutz, wo natürliche Vorgänge unbeeinflusst vom Menschen ablaufen. Die natürliche Entwicklung von Ökosystemen, auch nach Störungen, wie beispielsweise einem Windwurf, soll gewährleistet werden. Langfristig sollen sich dann wieder natürliche Urwälder im Nationalpark entwickeln.
Ein schöner Gedanke, freilich.
Aber ist das so?
Kann Natur wirklich noch „Natur sein“?
Die Spuren menschlicher Einflussnahme sind weltweit erkennbar, messbar und benennbar. Der anthropogen verstärkte Treibhauseffekt macht auch um Schutzgebiete keinen Bogen; Mikroplastik findet sich inzwischen auch (je nach Sensitivität der Messinstrumente und Genauigkeit der Suche) weltweit verbreitet.
Darüber hinaus wird auch in Nationalparken pflegerisch eingegriffen, um einen „natürlichen Ablauf“ ökosystemarer Prozesse zu gewährleisten und zu initiieren. Zusätzlich werden Arten wieder angesiedelt, aktuell der Bartgeier im Nationalpark Berchtesgaden andernorts wurde der Luchs angesiedelt und viele andere Arten. Die Natur wird also auch in stark geschützten Regionen nicht sich selbst überlassen.
Im Gegenteil; Naturschutz ist eine intensive Management-, Monitoring- und Marketingmaßnahme geworden. So werden die Bartgeier über social media beworben, per webcam beobachtet; kurz: permanent überwacht und/oder bewacht.
Natur Natur sein lassen?
In der Bundesverfassung der Schweiz ist von der Würde der Kreatur die Rede. D.h. Organismen sind in ihrem Selbstzweck und Selbstwert anzuerkennen. Wie steht es um die Würde einer Kreatur, die fortwährend direkt und indirekt überwacht wird?
Naturschutzmaßnahmen stehen unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck; Öffentlichkeitsarbeit, Erfolgsbilanzen und Monitoringprogramme sind daher ständige Begleiter viele Maßnahmen. Insekten müssen beispielsweise gesucht, gefunden, gefangen, getötet und bestimmt werden, um Nachweise zur Artenvielfalt zu erbringen. Arten- und Individuenzahlen als Richtschnur quantitativer Naturverbundenheit. Gleichzeitig können sich Wissenschaftler und Schutzgebietsverwaltungen dann mit dem zählbaren Erfolg ihrer Arbeit öffentlichkeitswirksam schmücken.
Natur Natur sein lassen? Ein Marketing-Slogan? Augenwischerei? Oder doch viel mehr; das Potential die Mensch-Naturentzweiung zu überwinden?
Lässt sich jenseits dieser auf quantitativer Außendarstellung angelegten Naturschutzbemühungen von unterschiedlicher Seite nicht auch qualitatives Wiederentdecken unserer Mitwelt anstreben, ein Leben, das anderes Leben in „Würde“ wirklich Natur sein lässt?
JR