Wir arbeiten so wenig wie nie zuvor – und verbrauchen so viele Ressourcen wie nie zuvor. Wenn wir die Entwicklung entsprechender Zahlen kontrastieren, stellt sich die Frage nach dem „Warum“: Haben wir einfach zu viel Zeit und Geld, um uns derart auszutoben, dass unser Verhalten zu Lasten unseres Planeten geht? Gibt es eventuell (noch) andere Gründe? Dass wir mit einer schonungslosen Rücksichtslosigkeit unserer Erde und anderen Lebewesen wie auch zukünftigen Generationen gegenüber agieren, ist keine Neuigkeit. Dass das Anthropozän dem Narzissmus zu frönen scheint, ist auch weit mehr als nur eine These.
Woran kann dies liegen?
Vor gut 150 Jahren, im Deutschen Kaiserreich anno 1871, malochten wir noch im Durchschnitt 72 Stunden in der Woche. In den folgenden Jahrzehnten sank die Wochenarbeitszeit immer weiter: Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 lag sie bei 55,5 Stunden. Im Jahr der Deutschen Wiedervereinigung wurde in Deutschland im Schnitt 39,7 Stunden pro Woche gearbeitet.
Das geschah nicht einfach so: Unsere Vorfahren setzten sich dafür ein, sie kämpften dafür: Denn die langen Arbeitszeiten trugen im 19. Jahrhundert zur Verelendung breiter Bevölkerungsschichten bei. Eine der wichtigsten Forderungen der Arbeiterbewegung und Gegenstand von Arbeitskämpfen war die Einführung kürzerer Arbeitstage. Im Jahr 1900 wurde dann der Zehn-Stunden-Arbeitstag (bei einer sechs Tage Woche) gesetzlich verankert, im Jahr 1965 in der Bundesrepublik dann die 40-Stunden-Woche. Die einzelnen Branchen unterscheiden sich heute teils extrem in den Arbeitszeiten, generell sind die 32 Stunden / Woche und / oder 4-Tages-Woche im Gespräch.
Auf der anderen Seite sind wir bei mehr Freizeit und mehr Geld immer verschwenderischer mit den natürlichen Ressourcen geworden: Seit 1961 ist der Earth Overshoot Day immer früher im Jahr eingetreten. War er 1970 noch im Dezember, lag er im Jahr 2019 schon im August. Das aber nur global. Dass der Tag ERST im August und nicht viel früher ist, liegt daran, dass die Industrieländer auf Kosten der weniger industrialisierten Länder leben. Wenn wir nur Deutschland betrachten, fällt der German Earth Overshoot Day im Jahr 2023 auf den 4. Mai!
Ich frage mich, was uns dazu bewegt, uns immer gleichgültiger gegenüber der Biokapazität zu verhalten. Wie kommt diese „Gönn dir“-Mentalität in unser Denken?
Wenn ich Viktor Frankls existenzanalytischen Ansatz mit in Betracht ziehe, wäre eine mögliche Erklärung, dass wir zwar immer weniger arbeiten, dafür uns aber in zunehmender Bedeutungslosigkeit eben jener Arbeit bewegen. Es ist die Minderheit der Beschäftigten, die ihrer Tätigkeit noch Bedeutung beimessen kann und will. Aus der hoch gelobten Work-Life-Balance scheint eine regelrechte Arbeitsaversion geworden zu sein.
Aber ist es nicht eben die tiefe Überzeugung, dass unser Einsatz / unsere Arbeit einen Unterschied macht, die uns Freizeit auch anders (ressourcenschonender) erleben lässt? Ist es nicht so, dass wir, unter dem Eindruck stehend, dass unsere Arbeitszeit nicht erfüllend ist, quasi vergeudetes Leben, wir einen inneren Druck aufbauen, es uns in unseren freien Stunden besonders gut gehen zu lassen? Dass wir dann überkompensieren, mit Wochenend-Ballermann-Urlauben, mit dem neuesten I-Phone, mit Fernreisen zu den exotischsten Zielen, mit jeder vorstellbaren Extravaganz in Technik und Technologie, um diesem schalen Nachgeschmack der Sinnentbehrung kurzfristig zu entkommen?
Wir Menschen sind nicht gleich in unserer Bedeutungszuschreibung: Für den einen ist vielleicht die Tätigkeit als Herzchirurg:in sinnstiftend - für den anderen ist es Bücher schreiben, lehren, designen oder gärtnern oder... Mit einer ureigenen Sinn-Attribution hinsichtlich der eigenen Arbeit würden wir nicht mehr den Eindruck haben, dass Arbeitszeit verschwendete Lebenszeit wäre. Wir würden uns nicht mehr um Lebenszeit betrogen glauben, die wir in der Freizeit beinahe frenetisch aufholen müssen.
Mit der Bedeutungsverleihung unserer Arbeit gegenüber wäre es denkbar, dass wir nicht mehr unseren freien Stunden entgegenfiebern, um „endlich zu leben“ und uns möglichst viel „zu gönnen“.
Was hält uns also davon ab, die wichtigste Ressource, über die wir eigenverantwortlich verfügen, nämlich unsere Lebenszeit, so einzusetzen, als ob wir es uns wert wären, verantwortungsbewusst mit uns umzugehen?
MF