Ich habe mir eine kurze Auszeit genommen. Nur fünf Tage in der Sonne, aber die habe ich gebraucht: Meine alte Freundin Misanthropie drohte, mich noch mehr als sonst für sich einzuvernehmen. Das kann ich mir in meinem Job eher nicht leisten. Es grummelte schon jeden Morgen in mir, wenn ich in mein Praxisgebäude ging und dort unten am Stuck, den die jungen Leute aus der WG ganz oben als Aschenbecher missbraucht haben, die ganzen Kippen sehe. Die Stummel, die dort keinen Platz mehr hatten, liegen vor dem Eingang am Boden. Daneben hat sich natürlich allerlei Abfall angesammelt: Leere Dosen wie Fastfood-Container, Platikmüll, Kassenzettel.
Man braucht die „Broken Window-Experimente“ von Wilson und Kelling gar nicht zu kennen, damit einem klar ist, dass die Hemmschwelle, sich selbst wie ein Vandale zu verhalten, dort, wo es schon ekelig und schmutzig ist, geringer ist.
Selbstverständlich hatte ich schon diverse Male die Raucher angesprochen, selbstverständlich habe ich mir eine Abfuhr geholt. „Stellen Sie uns hier draußen halt einen Aschenbecher auf“ war die lapidare Antwort. Insgesamt fühle ich mich mit meinen Weltverbesserungsvorschlägen wie eine gesprungene Schallplatte, die niemand mehr hören kann, die sich alleine immer weiter im Kreis dreht. Mir ist selbst schon schwindlig davon.
Ich mag weder mich selbst in einer grummeligen Stimmung noch mein Umfeld – also nutzte ich kurzerhand die Zeit eines ausgefallenen Seminars, um mich auszuklinken und Atem zu schöpfen. Brav zahlte ich meinen CO2-Ausgleich, das Öko-Gewissen macht schließlich nicht auch Urlaub, und sitze nun hier auf einer schneesturmverwüsteten Insel. Die Regierung gibt sich seit geraumer Zeit Mühe, die Insel attraktiv zu halten und sich endlich vom Massen-Sauf-Tourismus zu befreien: An der Strandpromenade sind Trinkwasserautomaten aufgebaut, Einwegplastik soll reduziert werden, und doch wehen des Nachts leere Plastikflaschen über den Sand. Gegen 7 Uhr morgens wird eine Armee Strandreiniger auf den Kilometer langen Sandstrand losgelassen: Wie Ameisen säubern sie die Idylle von allen auffälligen Spuren der menschlichen Zivilisation.
Es ist meine letzte Nacht hier: Ich sitze am Ufer und wieder einmal klopft die Einsicht in die Blindheit alles Seins hartnäckig an meine Stirn, will konfrontiert, beleuchtet werden: Es ist die Frage, wie es sein kann, dass wir, während die Welt immer weiter zugrunde geht, an einem Strand sitzen können, glauben, mit einer CO2-Abgabe etwas zur Verhinderung des drohenden Kollaps beigetragen zu haben, zwar mal kurz erschrocken inne halten, wenn uns wieder eine Weltuntergangsbotschaft vom abschmelzenden Gletscher erreicht und uns dann wieder über die letzte Aktion der „Last Generation“ echauffieren, weil „zwar das Ziel, aber nicht die Mittel richtig“ seien... Doch was bleibt denn, wenn alles nicht nur last, sondern schon komplett lost ist?
Die Theorien von Fedorov aus der Zeit des russischen Kosmismus gehen mir durch den Kopf: Sein Bestreben nach der Wiedererweckung aller Verstorbenen zum Leben, ganz und gar nicht auf religiösen, sondern auf wissenschaftlichen Grundlagen bauend, galten und gelten als Utopie (und setzen natürlich auch die Fähigkeit zur interstellaren Raumfahrt mit der Möglichkeit, andere Planeten zu bevölkern, voraus). Ein Traum nach physischer Unsterblichkeit, der Anfang des 20. Jahrhunderts von den „Immortalisten“ zur Forderung, 1922 bekannt gegeben in der Regierungszeitung Iswestija, erhoben wurde: „Wir stellen fest, dass die Frage der Verwirklichung persönlicher Unsterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesordnung gehört.“
Für mich erscheint die Vorstellung hochgradig dystopisch und die Kulmination des menschlichen Narzissmus: Das, was so verlockend auf Liebe zu gründen scheint, geht schließlich auf die Überhebung des Einzelnen über alles andere zurück. Mich gruselt der Gedanke. Ich will meine Toten nicht zu mir zurück holen, ich will vielmehr (irgendwann, nicht jetzt) zu ihnen. Und weil das nicht geht, ziehe ich mich aus und gehe ins Wasser, hoffe dabei, dass kein Guardia Civil vorbeischlendert, der mich für potenziell rettungsbedürftig wähnt und sich in die Fluten stürzt. Ich will ja jetzt noch nicht sterben, ich will vielmehr jetzt aufwachen.
Die Kälte des Ozeans trifft mich wie ein Schock, presst mir die Luft aus den Lungen, scheint mich instantan auf die Größe einer Wachtel schrumpfen zu lassen. Ich bin hellwach, mache die paar Schwimmzüge zurück an Land, zittere das Wasser ab, ziehe mich an und renne los.
Wir Menschen SIND die Katastrophe, wir SIND der Kollaps – wir provozieren ihn nicht. Wie der herabrollende Schnee die Lawine IST, nicht sie verursacht, SIND wir Menschen der Untergang.
Oh, Fedorov, wie passt der Egozentrismus des Menschen zu deiner angenommenen harmonischen Verbindung von allem mit allem?
MF