Kürzlich bin ich umgezogen und habe eine kleine Tanne in meinem Hauseingangsbereich gepflanzt. Jedes Mal, wenn ich an ihr vorbei gehe, freue ich mich, sie zu sehen. Manchmal ertappe ich mich, sanft über den jungen Wipfel des kniehohen Bäumchens zu streicheln und ihm zuzuwispern: „Oh, du bist ja schon wieder gewachsen!“. Und ich komme mir nicht einmal dann lächerlich vor, wenn mich meine Freunde belächeln, wenn ich mit leuchtenden Augen vom Wachstum „meiner Tanne“ erzähle.
„Die Pflanzen sind die immer offene Wunde der metaphysischen Arroganz, die unsere Kultur definiert.“, schreibt Emanuele Coccia in „Die Wurzeln der Welt“.
Die Argumentation folgt dem Gedanken, dass sich Menschen schon immer mehr mit anderen Tieren identifizierten, während Pflanzen oft als überflüssige Dekoration und Laune von Städtern oder als unerwünschtes Unkraut betrachtet werden. Pflanzen würden die radikalste Form des In-der-Welt-Seins vorführen, da nichts, auch wir nicht, materiell von der Welt getrennt sein könne und allein durch bloßes Sein den Kosmos forme, das Eintauchen in die Welt sei stilles ontologisches Design.
Wenn die Aussagen des italienischen Philosophen ab und an beinahe esoterisch anmuten, steckt doch viel Zündstoff für die Bewusstseinsphilosophie darin, denn: Materie hängt vom Geist ab, meint Coccia.
Er vertritt die These, dass Geist aus der gleichen Materie wie Wolken und Berge besteht und schließt die Frage an, weshalb dann Berge und Wolken und insgesamt Materie keinen Geist besitzen sollten? Eine Pflanze sei dabei eine Maschine, die die Erde an den Himmel bindet. „Jede Pflanze erfindet und eröffnet, so scheint es, einen kosmischen Plan, in dem kein Gegensatz besteht zwischen Materie und Fantasie, zwischen Vorstellung und Selbstentwicklung. Der Gedanke von einer Sphäre absoluter Kongruenz von Körper und Bewußtsein, von Bild und Materie, war der Biologie nie fremd; seine moderne Ausformulierung ist der Genbegriff. Sehr verbreitet war er in der Philosophie und Medizin der Renaissance. (...) Anders gesagt: Es gibt ein materielles, aber nicht neuronales Gehirn, einen Geist, der der organischen Materie an sich innewohnt. Durch das Leben kann die Materie Geist werden – indem sie zu leben beginnt. Die ersichtlichste Form dieser elementaren Form der „Zerebralität“ verkörpert der Samen.“
Coccia will dabei auch mit dem Anthropozentrismus Schluss machen, der seit dem Christentum dem Menschen die bekannte Sonderrolle in der Schöpfung zuweist. Dass das Leben kein rein chemisches Faktum ist, sondern ein kosmisches, genauer: ein astrologisches Faktum, das sei den Pflanzen zu verdanken, meint der in Paris lehrende Philosoph.
Spannende Ansichten, finde ich, und nehme mir vor, bei meiner nächstes Jogging-Runde in der Natur mal innezuhalten und den Blick nicht allgemein ins Grün, sondern ganz speziell auf die Pflanzen, die dieses Grün ausmachen, zu richten. Und meiner kleinen Tanne dann vielleicht auch gleich ein bisschen Waldboden mitzubringen.
MF